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Wiederverwendung : die revolution im bausektor


Stahlbetonplatten, Tragwerke, Holzbauteile, Türen, Sanitäranlagen oder Möbel – viele Dinge können nach dem Rückbau eines Gebäudes einem zweiten Leben zugeführt werden. Um dies zu erreichen, müssen wir jedoch unsere Vorstellungen vom Bauen überdenken. Überblick zu einem brandaktuellen Thema.

«Zur allgemeinen Verbreitung der Wiederverwendung ist ein Kulturwandel erforderlich.»

François Guisan, Experte für nachhaltiges Bauen, kennt den Bausektor genau. Denn er ist Mitglied der Geschäftsleitung von MAGENTA EKO. Das Unternehmen ist an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Forschung angesiedelt. Er ist vom Potenzial der Wiederverwendung überzeugt und spricht über die Hindernisse, die deren allgemeiner Verbreitung bislang entgegenstehen, und wie sich diese überwinden lassen.

Zunächst sollten wir über den Begriff selbst sprechen. Was ist unter Wiederverwendung genau zu verstehen?
Das ist eine wichtige Frage, denn die Wortwahl ist in diesem Bereich von entscheidender Bedeutung. Häufig wird von Recycling, Verwertung oder Wiederverwendung gesprochen und es ist nicht ganz klar, was damit gemeint ist. Die Wiederverwendung lässt sich in vier Stufen untergliedern. Auf der ersten Stufe wird die Lebensdauer einer bereits existenten Struktur ganz einfach durch gezielte Massnahmen verlängert. Auf der zweiten Stufe werden Elemente ausgebaut und genauso auf einer anderen Baustelle wiederverwendet. Eine Tür dient beispielsweise erneut als

 

«Objektiv spricht nichts dafür, dass ein wiederverwendetes Element weniger funktional ist als ein neues.»

 

Tür. Ändert sich die Funktion, befinden wir uns auf der dritten Stufe. Der ursprüngliche Zweck des Elements wandelt sich. Mit Ziegeln wird dann zum Beispiel eine Wand errichtet. Auf der vierten Stufe beinhaltet die Wiederverwendung schliesslich eine Verarbeitung oder Wiederaufbereitung. Etwa altes Parkett, das neu laminiert wird, damit daraus ein neues Furnier entsteht.

 

Ist es Wiederverwendung, wenn Beton zerkleinert wird, um daraus neuen Beton zu machen?
Nein, das ist Recycling. Das ist die nächste Etappe. Lassen sich Materialien nicht gemäss einer der zuvor genannten vier Stufen wiederverwenden, dann werden sie zerkleinert, um sie zu verwerten. Das ist bei Beton möglich, aus dem neue Betonplatten hergestellt werden können. Das funktioniert beispielsweise auch mit Styropor. Es wird aufbereitet und daraus neues Styropor gemacht. Und wenn Materialien nicht recycelt werden können, bleibt als letzte Etappe das Verbrennen zur Energiegewinnung.

 

Warum ist das Recycling aus ökologischer Sicht unvorteilhafter als die Wiederverwendung?
Weil die ursprünglichen Materialien nicht angemessen genutzt werden. Die Wiederverwendung ist die erste und beste Massnahme, um unseren CO2-Abdruck zu verringern. Hierbei werden Materialien wiederverwendet, deren strukturelle Eigenschaften ohne den für deren Produktion erforderlichen Einsatz von Energie, Wasser und Rohsto!en nutzbar gemacht werden. Diese graue Energie wurde bereits aufgewendet und es ist am e »zientesten, diese optimal zu nutzen. Andernfalls betreiben wir so genanntes Downcycling. Dabei wird die Nutzung dem eigentlichen Wert der wiedergewonnenen Materialien nicht gerecht.

 

Wie steht unser Land in Sachen Wiederverwendungda?
In der Schweiz ist die Zirkularitätsrate der Materialien gering. Schätzungsweise werden nicht einmal 15 % davon wiederverwendet. Der ganze Rest ist Teil der Linearwirtschaft. Hier gelten nicht mehr genutzte Materialien als Abfall.

 

Was kann konkret wiederverwendet werden?
Wiederverwendung kann auf allen Ebenen stattfinden, vom Rohbau, hier beispielsweise tragende Elemente, bis zum Innenausbau. Die grosse Herausforderung: Die Eigenschaften der Materialien sind je nach Verwendungszweck zu bewerten. Denn die Wiederverwendung kann nicht die gleichen Garantien bieten, die der Hersteller eines neuen Produkts versprechen kann.

 

Ist das ein Problem?
Es ist vor allem eine kulturelle Frage. Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie steigen in einem Wohngebäude aus dem Fahrstuhl. Wenn Sie jetzt nach links und nach rechts schauen, sehen Sie lauter identische Türen. Bei der Wiederverwendung sieht möglicherweise jede Tür anders aus. Das hat überhaupt keinen Einfluss auf deren Zweckmässigkeit, aber es erschwert die Arbeit des Architekten. Die vielleicht grösste Besonderheit der Wiederverwendung besteht darin, dass sie die Standardisierung, die in unserer Baukultur die Regel ist, in Frage stellt. Das ist ein zentrales Thema.

 

Und es behindert den verstärkten Einsatz von Wiederverwendung …
Ja, aber es birgt auch eine spannende Komponente. Wie lassen sich beispielsweise die Elemente einer Glasfassade, eine Innenwand, ein Doppelboden oder Sanitäranlagen wiederverwenden? Die Herausforderung ist äusserst beflügelnd. Derzeit ist der Wiederverwendungsprozess jedoch auf die handwerkliche Ebene beschränkt, da wir die Wertschöpfungskette nicht beherrschen.

 

Was heisst das?
Der gesamte Bausektor beruht auf einem Prozess, bei dem jeder Akteur dem Auftraggeber Garantien geben kann. Dadurch wird das finanzielle Risiko im Falle unvorhergesehener Ereignisse reduziert. Wenn Sie anders arbeiten wollen, erfordert das

 

«Es müssen Regeln für den Rückbau aufgestellt werden.»

 

zusätzliche Anstrengungen, denn diese Branchen existieren nicht.

Wollen Sie damit sagen, dass sich die Wiederverwendung nicht so bald verbreitet?
Die einzige Chance besteht darin, dass grosse Bauherren bereit sind, auf diese Garantien zu verzichten. Was sie dazu bewegen kann, ist ein finanzieller Anreiz. Wiederverwendete Materialien müssen günstiger sein als neue. Im Prinzip ist das natürlich der Fall. Aber der Rückbau und die Lagerung sind teuer, zumal es Verluste gibt und Elemente beschädigt werden. Der Rückbau eines einzelnen Gebäudes ist arbeitsintensiv und es fallen nur wenige Materialien an. Wenn Sie dagegen dreissig Gebäude rückbauen, dann wird es interessant.

 

Das könnte ein wirtschaftlich rentables Geschäftsmodell werden, oder?
Zweifellos. Diese Branche muss auf jeden Fall entwickelt werden. Es gilt, Lagerstätten zu identifizieren, ihr Potenzial zu ermitteln und Unternehmen zu finden, die diese Materialien gebrauchen könnten. Für eine e »- ziente Lieferung wären sie auf Paletten zu verpacken. Das wäre die Vorgehensweise.

 

Warum ist das noch nicht der Fall?
Nur wenige Unternehmen befassen sich mit dem Rückbau von Gebäuden. Heute werden Gebäude hauptsächlich abgerissen. Mit riesigen Abrissbirnen werden sie dem Erdboden gleichgemacht. Danach findet sich nichts Wiederverwendbares mehr. Es müssen Regeln für den Rückbau aufgestellt werden. Er sollte als separate Baustelle unter der Aufsicht eines Architekten behandelt werden. Vor allem sollte bereits bei der Errichtung an den Rückbau gedacht werden. Solange die Baubranche nicht dazu gezwungen wird, ihre Prozesse zu überdenken und sich von unserer Art des Bauens zu verabschieden, die ein Erbe des 19. Jahrhunderts ist und auf der Vorstellung unerschöpflicher Ressourcen beruht, wird sich nichts ändern.

 

Könnte die Politik hier etwas bewirken?
Selbstverständlich. Der Druck des Volkes übrigens auch. Die Auswirkungen der Klimademonstrationen auf die Wirtschaft sind nicht zu unterschätzen. Dann gibt es noch das Instrument der CO2-Bilanz. Sie könnte als erster Hebel genutzt werden, um die grossen Konzerne dazu zu bringen, die Art und Weise, wie sie ihre Immobilienbestände verwalten, auf den Prüfstand zu stellen. Es ist leider bekannt, dass lediglich verbindliche Standards eine Veränderung herbeiführen können. Und wenn der Abriss eines Gebäudes, ohne eine nachhaltigere Alternative vorzusehen, die CO2-Bilanz eines Unternehmens verschlechtert, wird es gezwungen sein, diesen Prozess in Frage zu stellen.

 

Bei der Wiederverwendung wird ein altes Gebäude nicht mehr als zu entsorgender Abfall betrachtet, sondern als Quelle von Ressourcen. Das ist eine tiefgreifende Änderung der Sichtweise, nicht wahr?
In der Tat. In der Branche sprechen wir übrigens von urbanen Minen oder Lagerstätten. Und das ist berechtigt. Denn diese Materialien haben einen Wert, der jedoch verschwindet, sobald das Gebäude errichtet und abgeschrieben ist. Im Portfolio eines Grundstückeigentümers ist es nichts wert. Nun müsste aber ein Restwert stehen bleiben. Auf einer grossen Baustelle kann der Wert der wiedergewonnenen Materialien leicht eine Million Franken betragen. Das ist beachtlich.

 

Wenn es darum geht, die Sichtweise zu ändern, sprechen Sie davon, dass auch weniger Standardisierungen zu akzeptieren sind. Sind wir reif dafür?
Alles basiert auf der Annahme, dass der Einsatz fabrikneuer Materialien keine Probleme mit sich bringt. Doch das ist falsch. Jeder Hauseigentümer hat schon Vorfälle mit Sachmängeln erlebt, selbst bei nagelneuen Gebäuden. Objektiv spricht nichts dafür, dass ein wiederverwendetes Element weniger funktional ist. Unsere Herausforderung besteht heute darin, dies der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Davon sind wir noch weit entfernt.

UNTERSTÜTZUNG DURCH KI

Um das Potenzial eines Gebäudes hinsichtlich der potenziell wiederverwendbaren Materialien zu ermitteln, ist heute ein Besuch vor Ort unabdingbar. Mehrere Gewerke müssen angefragt werden, um Experteneinschätzungen, eine umfassende Analyse und Kernbohrungen zur Untersuchung der Qualität der Strukturen zu erhalten. Doch das könnte sich ändern. Denn mehrere Initiativen verfolgen das Ziel, das Sammeln von Daten zum Immobilienbestand insbesondere mithilfe künstlicher Intelligenz zu bündeln. Durch die Kombination von Katasterinformationen, Baustellenmeldungen und die von Google Street View erfassten Bilder könnte diese unverzichtbare Etappe deutlich beschleunigt werden. Die von der EU bezuschusste Plattform Madaster strebt ebenfalls die Schaffung eines Materialpass-Systems an. Dabei wird die Bauweise von Gebäuden und deren Potenzial hinsichtlich der Wiederverwendung erfasst.

www.madaster.ch