Dossier
Die Baubranche befindet sich an einem Wendepunkt
Es gibt eine neue Ethik der Wiederverwendung, die allerdings noch Verbreitung finden muss. Doch dank engagierter Akteure entdeckt die Baubranche ein altes Konzept neu. Der grösste Hemmschuh für die Wiederverwendung von Materialien sind jedoch die Denkmuster der Linearwirtschaft.
Codename: K.118. Auf mehreren Geschossen aus Backstein thront ein asymmetrischer Aufbau in leuchtendem Orange. Die aufgestockte Halle liegt wenige hundert Meter vom Bahnhof in Winterthur (ZH) entfernt. In der Welt der zirkulären Architektur, die sich in vollem Aufbruch befindet, gilt sie weltweit als Ikone. Und das zu Recht: Bei der Aufstockung des ursprünglichen Gebäudes setzte das Büro In Situ im Jahr 2021 78 % wiederverwendete Materialien ein. Nach den herausragendsten Beispielen für Wiederverwendung gefragt verweisen alle Akteure der Branche auf diese ehemalige Lagerhalle. Sie dient Architekten also nachweislich als Inspirationsquelle, bleibt aber auch eines der seltenen Beispiele für ein brandneues Phänomen.
KREISLAUFWIRTSCHAFT
Wirklich brandneu? Hani Buri, assoziierter Professor an der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg (HEIA-FR), korrigiert: «Es handelt sich um eine althergebrachte Praxis. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden Materialien getrennt und wiederverwertet. Denn sie waren teuer und es war ein hoher Energieaufwand notwendig, um sie heranzutransportieren.» Dann kam die industrielle Revolution. «Es wurde schneller gebaut und die Kosten für Rohsto!gewinnung und -transport sanken. Gleichzeitig stiegen die Arbeitskosten. Der Übergang von der Kreislaufwirtschaft zur Linearwirtschaft war vollzogen.» Dieses Modell ist mit einem rasanten Wachstum verbunden und wird heute stark hinterfragt. In der Schweiz ist Barbara Buser eine Pionierin auf diesem Gebiet. Sie hatte zehn Jahre in Tansania verbracht und dort den Universitätscampus von Daressalam renoviert. In den 1990er-Jahren kehrte die Baslerin in die Schweiz zurück und gründete das Büro In Situ. Denn sie war von der Notwendigkeit überzeugt, das Bauen zu überdenken. Der 2014 gegründete Genfer Verein Matériuum bekannte sich rasch zu dieser Philosophie. «Damals war von Wiederverwendung noch keine Rede», erinnert sich dessen Mitdirektor Raphaël Bach. «Wir stellten fest, dass im Kulturbereich zahlreiche Gegenstände wie etwa Bühnenbilder weggeworfen wurden, obwohl sie noch verwendet werden konnten. Um deren Wiederverwendung zu vereinfachen, gründeten wir die Ressourcerie.» Das Konzept fand rasch über den Kulturbereich hinaus Anwendung. 2019 beauftragte das Bundesamt für Umwelt den Verein mit einer Studie unter dem Titel «Wiederverwendung Bauen». «Nach deren Verö!entlichung kamen Akteure aus dem Bausektor auf uns zu. Heute arbeiten wir nicht nur mit Körperschaften, sondern auch mit Architekten, Generalunternehmen und Regiebetrieben zusammen.» Gleichzeitig entstehen überall in der Schweiz Kollektive, Kooperativen und Vereine. Hierzu zählt beispielsweise der Circular Construction Catalyst (C33), der den Austausch zwischen den Schlüsselakteuren des Sektors erleichtern will. «Der Bausektor hat einen sehr grossen Anteil am Ressourcenverbrauch und an der Abfallerzeugung, in der Schweiz und weltweit», weiss Anja Bundschuh, die Kommunikationsverantwortliche von C33. «Die fehlende Sensibilisierung und die mangelnden Kenntnisse der Vorteile und Möglichkeiten der Wiederverwendung hemmen deren Entwicklung. Wenn wir sie beschleunigen möchten, müssen wir diese Hindernisse überwinden.»
AUFBAU EINES NETZWERKS
Zu diesen Hindernissen zählt der fehlende Dialog innerhalb der Branche. «Die heutige Struktur der Branche steht der Kreislaufwirtschaft entgegen», bemerkt Julien Pathé, Bauingenieur und Unternehmensgründer von Coopérative 2401. «Die Akteure aus dem Bereich Abriss müssen mit den Akteuren aus dem Bereich Bauen vernetzt werden. Denn diese sprechen für gewöhnlich nicht miteinander. Es geht um den Aufbau eines regelrechten Netzwerks.» Auch das fehlende Know-how in diesem Bereich ist ein wichtiger Punkt. «Abriss bedeutet eine recht «brutale» Zerstörung bestehender Strukturen. Der Rückbau hingegen erfordert eine sorgfältigere Vorgehensweise. Er verlangt Fachwissen in Bezug auf die Materialien und die Bauelemente», erklärt Anja Bundschuh. Kurz gesagt ist bei der Wiederverwendung Geduld gefragt. «Es geht um eine ganze Reihe von Zeitfragen», bestätigt Julien Pathé. «Zunächst müssen die Elemente, die möglicherweise wiederverwendet werden können, sichtbar gemacht werden. Hierzu wird ein Inventar erstellt. Wenn ein Bauunternehmen weiss, dass bestimmte Materialien innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts verfügbar sind, kann es sie in die Baustellenplanung integrieren.»
ÖKOLOGIE ZU WELCHEM PREIS?
Dann müssen die Materialien gekauft und gelagert werden, bis das Projekt konkret wird. Die Kette ist lang und die Kosten schnellen rasch in die Höhe. Könnte dieser nachhaltige Ansatz die Situation auf einem Markt, wo die Mieten für weite Teile der Bevölkerung immer schwieriger zu stemmen sind, nicht noch weiter verschärfen? «Auf all unseren Baustellen haben wir insgesamt niedrigere Kosten erzielt», antwortet Julien Pathé. «Aber das erfordert Kreativität. Wir hatten beispielsweise die Idee, bei einem Projekt in Renens für das Pflaster auf wiederverwendeten Beton zurückzugreifen. Neu gegossene Betonplatten waren aber wesentlich günstiger. Dann haben wir uns jedoch dafür entschieden, diesen Beton für die tragenden Wände zu verwenden. Dadurch konnten wir die Kosten im Vergleich zu einer neuen Wand um 25% senken.»
«Das Bauen wurde standardisiert und wir haben die Vorstellung vom Handwerk in den Bauberufen verloren.»
Reto Largo, Geschäftsführer von NEST, das aus der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (siehe Kasten) hervorgegangen ist, ist davon überzeugt: «Wir stehen am Anfang dieser Entwicklungen und die derzeitigen Strukturen sind begrenzt. Sobald die Wiederverwendung an Bedeutung gewinnt, werden die Kosten sinken.»
WIE VOM HEIMWERKER?
Die Akteure der Wiederverwendung sind sich einig: Die gesamte Kette ist zu überdenken. «Wenn heute ein Gebäude geplant wird, dann wird es entworfen. Um das Objekt zu realisieren, werden anschliessend die Materialien ausgewählt. Sie werden bestellt und eingebaut. Von einem Lager verfügbarer Elemente auszugehen, die über Monate zusammengetragen wurden, um sie anschliessend in ein Bauprojekt zu integrieren, ist eine völlig andere Vorgehensweise», fährt Hani Buri fort. Schliesslich muss sich auch der Endkunde an diese neuen Gegebenheiten gewöhnen. Die merkwürdigen Winkel von Halle K.118 sind den unterschiedlichen Elementen geschuldet, die den Architekten zur Verfügung standen. Bei ihrem Anblick wird klar, dass das Gebäude, so symbolträchtig es auch sein mag, gewiss nicht jedem gefällt. «Das kann tatsächlich dazu führen, dass Bauträger zögern», bemerkt Reto Largo. «Die Ästhetik ist ungewohnt und birgt möglicherweise das Risiko, dass die Immobilie schwieriger zu vermieten ist.» Hani Buri bestätigt: «Beim Haus der Wiederverwendung, das wir an der HEIA-FR konzipiert haben, wird von Heimwerker-Ästhetik gesprochen. Wir hören Bemerkungen wie «Mein Kind hätte das entwerfen können». Ich denke, die Architekten müssen ein Know-how entwickeln, um die Wiederverwendung besser zu integrieren. Welchen Wert messen wir etwas Altem bei? Das Bauen wurde standardisiert und wir haben die Vorstellung vom Handwerk in den Bauberufen verloren. Mit der Wiederverwendung kommen wir wieder dahin zurück.»
Eine der Herausforderungen der Baubranche besteht darin, die Materialien zu sortieren und zu inventarisieren, damit sie auf anderen Baustellen wiederverwendet werden können.
ZWÖLF APOSTEL FÜR MEHR KREISLAUFWIRTSCHAFT
Die Zahl ist äusserst symbolträchtig: Zwölf Hauptakteure des Bausektors haben im Juni 2023 die «Charta kreislauforientiertes Bauen» unterzeichnet. Und zwar an einem ebenso symbolträchtigen Ort, nämlich im NEST in Dübendorf (ZH) – ein echter Schaukasten, wo die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) die jüngsten Innovationen im Bereich Wiederverwendung in die Praxis umsetzt. Zu den Unterzeichnern zählen öffentliche Stellen (Stadt und Kanton Zürich, Bundesamt für Bauten und Logistik, BBL), aber auch Privatunternehmen wie das Post Immobilien Management, UBS, AXA oder Swiss Life. Alle zusammen zeichnen für 4 Milliarden Franken Hochbauinvestitionen pro Jahr in der Schweiz verantwortlich. Das Ziel der Charta ist ambitioniert, der Ansatz jedoch von Bescheidenheit geprägt. Bis 2030 wollen die Partner die Verwendung nicht erneuerbarer Primärrohstoffe auf 50 % reduzieren. Sie verpflichten sich ebenfalls dazu, «den Ausstoss indirekter Treibhausgasemissionen zu erfassen und stark zu reduzieren sowie die Kreislauffähigkeit von Sanierungen und Neubauten stark zu verbessern».