REPORTAGE
WHISKY AUS LUFTIGER HÖHE
Die Destillerie Orma ist die höchstgelegene der Welt: Hier werden an der Bergstation einer Pendelseilbahn in 3303 Metern Höhe komplexe Spirituosen erzeugt, die dem Naturerbe des Engadins huldigen.
Orma – Graubündner Whisky zwischen Himmel und Erde
Rinaldo Willy und Pascal Mittner haben eine Leidenschaft für Spirituosen und besitzen die höchstgelegene Destillerie der Welt. Zu finden ist sie an der Bergstation der Pendelseilbahn des Piz Corvatsch (GR) in 3303 Metern Höhe. Seit 2020 erzeugen sie hier in aller Ruhe Spirituosen, die das Engadiner Terroir widerspiegeln sollen. Ein Besuch.
Es ist eine Reise für sich. Wer die Destillerie Orma besuchen möchte, muss den legendären roten Zug der Rhätischen Bahn nehmen, in Sankt-Moritz (GR) aussteigen, mit dem Bus bis Silvaplana und dann bis Surlej fahren und dort in die Seilbahn zum Piz Corvatsch steigen. In 3303 Metern Höhe a gekommen, scheint die Zeit stillzustehen. Die Stille wird lediglich vom Schrei der Alpendohlen durchbrochen. Von den verschiedenen Panoramaplattformen, die an diesem schönen Augustnachmittag von Touristen bevölkert werden, erö!net sich ein atemberaubender 360-Grad-Blick auf die Engadiner Seen und die umliegenden Gipfel.
EIN ETWAS VERRÜCKTER TRAUM
Laut einem gelben Schild ist es ein dreiminütiger Fussmarsch bis zur Destillerie. Es geht eine Treppe hinunter und einige Meter durch eine Aussengalerie und schon fällt der Blick durch eine XXL-Glasscheibe auf glänzende Destillen. Hier entstehen in aller Ruhe der Whisky und der Gin von Orma – rätoromanisch für Seele. Karsten Tönjes ist der Hüter dieses Spirituosen-Tempels. Liebhaber kommen bisweilen von weit her, um die Anlage zu bestaunen, die der Vorstellungskraft der beiden Gründer, Rinaldo Willy und Pascal Mittner, entsprungen ist. Mehrere Jahre lang lagerten die beiden befreundeten Whiskyproduzenten zunächst Fässer auf einer der Terrassen, um den Whisky in der Höhe reifen zu lassen. Und schliesslich beschlossen sie, ihren etwas verrückten Traum in die Tat umzusetzen und hier vor Ort die am höchsten gelegene Destillerie der Welt zu bauen. Die aussergewöhnliche Lage machte das Bauvorhaben zu einem besonders komplexen Unterfangen. Doch nach minutiösen Planungen und monatelanger Arbeit konnte die Einweihung am 10. Oktober 2020 – mitten in der Pandemie – stattfinden. Der Orma-Whisky wird aus gemälzter Gerste hergestellt, die täglich mit der Seilbahn antransportiert wird. Das benötigte Wasser stammt von der Mittelstation, wird erhitzt und mit dem Getreide vermischt. Während des Maischens wird die Temperatur weiter erhöht, damit die Enzyme die im Getreide enthaltene Stärke extrahieren und in Zucker umwandeln. Anschliessend wird Hefe zugesetzt, die den Zucker wiederrum in Alkohol umwandelt. Die letzte Etappe ist die Destillation. Beim ersten Brenngang entstehen Low Wines mit 20 % Alkoholgehalt, die dann einem zweiten Brenngang unterzogen werden. Nur der Mittelteil des Destillats, das Herz, mit 80 % Alkoholgehalt wird weiterverwendet. Dann wird der Whisky mit entmineralisiertem Wasser bis zum gewünschten Alkoholgehalt verdünnt und reift anschliessend in Eichenholzfässern heran. Pro Woche werden hier zwischen 600 und 800 Liter Whisky produziert. Das handwerkliche Verfahren wird von Karsten Tönjes genauestens überwacht, der mehrere Tage pro Woche in der Destillerie bleibt, ohne ins Tal zurückzukehren.
DER GESCHMACK DES ENGADIN
Auch wenn der Bau einer solchen Anlage in über 3000 Metern Höhe verrückt erscheinen mag, so ist dies laut Ronaldo Willy und Pascal Mittner der ideale Ort, um ihre Vision zu verwirklichen, nämlich die Schweiz als Whisky-Nation bekannt zu machen. «Auf dieser Höhe ereignet sich der Destillationsprozess bei rund 10 Grad tieferer Temperatur als auf Meereshöhe», erklärt Karsten Tönjes. «Der Angels‘ share, der Engelsanteil, also der Anteil des Whiskys, der im Laufe der Lagerung verdunstet, ist ebenfalls höher. Diese Faktoren verleihen dem Whisky mehr Komplexität.» Die spektakuläre Lage mit dem freien Blick auf die Gletscher des Berninamassivs und die Engadiner Seenlandschaft weckt die Sinne der Besucher. Whisky-Liebhaber schätzen seit jeher diese Verbindung mit der Landschaft und mit der Natur. In den Augen von Ronaldo Willy und Pascal Mittner stehen die Schweiz und insbesondere Graubünden Schottland in nichts nach. Mit ihrem Produkt wollen die beiden Geschäftspartner die Charakteristika des lokalen Terroirs bestmöglich zum Ausdruck bringen. Das wird durch ihre Larix-Edition (Lärche) und ihre In Lain-Edition (Arve) verkörpert, die in Fässern heranreifen, die Holz dieser beiden Baumarten enthalten. Man verkostet sie hier mit nahezu religiöser Ehrfurcht und dabei schwebt der Blick zwischen Himmel und Erde. Sein einzigartiger Geschmack verleiht dem Orma-Whisky in der Tat eine ganz besondere Seele.
«Auf dieser Höhe ereignet sich der Destillationsprozess bei rund 10 Grad tieferer Temperatur als auf Meereshöhe»
Alexander Zelenka
WEITERE INFOS www.ormawhisky.ch
DER BOOM DER SCHWEIZER DESTILLERIEN
Am 12. Mai 1999 hob die Eidgenossenschaft das Verbot auf, in der Schweiz Getreide zu destillieren und daraus Whisky, Gin und Wodka zu produzieren. Vor diesem Zeitpunkt galt jedes Destillat auf Getreideoder Kartoffelbasis als illegal. Dieses Verbot war 1887 (Gründungsdatum der Eidgenössischen Alkoholverwaltung) in Kraft getreten und sollte ursprünglich einen landesweiten Alkoholmissbrauch verhindern. Als dieses Verbot fiel, entstanden die ersten Schweizer Whisky- und Gin-Brennereien und jedes Jahr kommen weitere hinzu.