Begegnung
Pierrot Ayer, der Geschmack des Terroirs
Als Gallionsfigur der Haute Cuisine rückt der Freiburger seit vierzig Jahren die Produkte seines Kantons in den Mittelpunkt seines Schaffens und hebt immer wieder die wichtige Rolle der Landwirte und Handwerker hervor. Wir begleiteten den Chefkoch des Le Pérolles, der zum Paten der Schweizer Genusswoche 2023 gekürt wurde, bei einem Spaziergang über den Markt.
Mittwochmorgen, 8.30 Uhr. Die Morgensonne taucht die Stände auf dem Freiburger Wochenmarkt in ein warmes Spätsommerlicht. Auf dem Platz herrscht reges Treiben und eine stattliche Gestalt bahnt sich ihren Weg durch die Menschenmenge. «Hallo Pierrot!» Kaum hat er ein paar Meter zurückgelegt, wird der Koch von einem Gemüsebauern gegrüsst. Er gehört einfach dazu: Pierrot Ayer, der wichtigste Botschafter des Terroirs seines Heimatkantons Freiburg, ist im Rhythmus der Wochenmärkte und Jahreszeiten aufgewachsen. Der betörende Duft von reifen Mirabellen liegt in der Luft. «Riechen Sie das? Oh, und hier sind die ersten Pflaumen.» Wir sind nur 500 Meter vom Le Pérolles entfernt, dem mit 17 Gault&Millau-Punkten ausgezeichneten
«Ohne die Landwirte und Handwerker gäbe es für uns keine Arbeit.»
Restaurant, das seit 2019 die Handschrift des Stararchitekten Mario Botta trägt. Hier arbeitet die ganze Familie, denn Pierrot Ayer wird von seiner Frau Françoise und seinem Sohn Julien unterstützt, der für die Verwaltung und die Weinkarte zuständig ist. Die Küche hingegen bleibt die Wirkungsstätte des Vaters, der auf eine zehnköpfige Brigade zählen kann. Seit mehreren Jahren bereitet der 60-Jährige jedoch seine Nachfolge vor und lässt seinem Team und dem Küchenchef Frédéric Martot immer mehr Freiheiten. «Man muss seinen Platz räumen können», fasst er in einem rauen Ton zusammen. Auf die Frage, ob das so einfach ist, wie es klingt, antwortet er mit einem Lächeln: «Wenn es sein muss, muss es sein! Ich versuche, mich allmählich zurückzuziehen und sie zu begleiten. Seit fünf Jahren teile ich das Abenteuer mit Julien, und die Idee, ihm die Zügel zu überlassen, war von Anfang an da. Sonst hätten wir das Restaurant nicht übernommen.»
DIE LIEBE ZUR WEITERGABE
Das glaubt man gerne, denn die Weitergabe von Wissen ist ein wesentlicher Aspekt im Werdegang des Freiburger Kochs, der sich seit Jahren in der Vereinigung Jeunes Restaurateurs d’Europe und anderen Zusammenschlüssen von Akteuren der Branche engagiert. «Kochen ist ja schön und gut», erwidert er. «Aber ich bin nicht der Typ, der sich in der Küche verschanzt. Dafür bin ich viel zu gern unter Menschen. Begegnungen bringen mich weiter.» Für diesen Liebhaber des Miteinanders und der grossen Tafelfreuden, der in seinem Kanton als Aushängeschild für die Spitzengastronomie fungiert, war die Rolle des Paten der Schweizer Genusswoche 2023 eine Selbstverständlichkeit. «Ich übernehme diese Rolle nur zu gern, weil sie mir so vertraut ist. Seit vierzig Jahren gehe ich jede Woche auf den Markt und engagiere mich dafür, die Freiburger Produkte zur Geltung zu bringen und die Bedeutung der Produzenten in Erinnerung zu rufen: Sie sind in der gesamten Region verteilt. Ohne die Landwirte und Handwerker gäbe es für uns keine Arbeit.» Die Arbeit ist zweifellos ein weiterer Grundpfeiler seiner Karriere. Er hat keine Mühen gescheut, um die Grenzen seiner Küche zu erweitern und sich einen Platz in der Gastronomieszene zu sichern, die seine Meisterschaft in Bezug auf Ausgewogenheit, Texturen und Aromen sowie seine tiefe Liebe zum Terroir schnell erkannt hat. Aber er will sich nicht beschweren: «Natürlich ist der Beruf hart», sagt er. «Aber man lernt, damit umzugehen. Und darum geht es doch im Leben, oder? Je mehr du hast, desto mehr willst du. Es gibt immer viel zu tun und man muss sich an die Arbeitszeiten halten, aber wir sind hier, um unsere Kunden zufrieden zu stellen.» Der Koch hat jedoch auch gelernt, mit seiner Energie hauszuhalten, sich genügend Urlaub zu gönnen und lange Spaziergänge in der Natur zu unternehmen, um die Anspannungen des Al tags abzubauen. Pierrot Ayers Kindheit war geprägt vom Gemüse aus dem Familiengarten, von den Büschelbirnen der Kilbi, deren runzlige Schale ein sirupgetränktes Fleisch verbirgt, das herausquillt, wenn man ihren Stiel löst, und von geschmortem Rotkabis. «Der meiner Mutter war unübertro!en», verrät er. «Ich habe ihn nie so hinbekommen, obwohl sie nichts Aufwendiges hineingesteckt hat, ausser viel Liebe, Zeit – und Leberwurst.» Dass ihm diese Berufung nicht in die Wiege gelegt wurde, ist unerheblich. Seine ersten Erfahrungen in der Welt der Gastronomie sammelt er während eines Praktikums als Küchenjunge in Les Marécottes (VS), und schnell wird ihm klar, dass hier sein Platz ist. Alles fügt sich, fast so, als hätte es sein Schicksal von vornherein so vorgesehen: Ende der 1970er Jahre geht er in Rivaz und Lausanne in die Lehre, bevor er in den besten Restaurants des Landes arbeitet, im legendären Baur au Lac in Zürich, im Suvretta House in St. Moritz, im Schweizerhof in Bern, im Pont de Brent unter der Leistung Gérard Rabaeys oder im Baseler Bruderholz bei Hans Stucki. Zehn Jahre lang lebt er im Rhythmus einer boomenden Schweizer Kochszene, in der er mit Sterneköchen zusammenarbeitet und vieles lernt, bevor er seinen eigenen Weg einschlägt und 1988 das Buffet de la Gare in Freiburg übernimmt. Nachdem er das Fleur-de-Lys in der Unterstadt und das Le Pérolles (der Vorgänger des aktuellen Restaurants) betrieben hat, kehrt er fünfunddreissig Jahre später wieder ins Quartier zurück – mit einem einschlägigen Namen in der Welt der Gastronomie.
SICH UNENTWEGT NEU ERFINDEN
«Hallo Pierrot! Geht’s gut?». Der Chefkoch im geblümten Hemd und mit der getönten Brille bleibt immer wieder stehen, um eine Hand zu schütteln, ein paar Worte mit einem Bekannten zu wechseln oder den Blick über die Auslage eines Gemüsebauern schweifen zu lassen. «Bei ihm bekommst du die besten Kirschen», flüstert er und deutet auf den Stand eines lokalen Produzenten. Das wöchentliche Tre!en mit denjenigen, die das Freiburgerland verkörpern, liegt ihm besonders am Herzen, und sein Team verlässt jeden Mittwoch im Morgengrauen mit schweren Säcken voller Obst, Gemüse und Käse den Markt. Er erinnert sich, dass er sich nach der Schliessung des früheren Le Pérolles im Herbst 2017 nahezu wie ein Waisenkind fühlte. «Es war seltsam, nur für mich auf den Markt zu gehen. Ich liebe es, mich inspirieren zu lassen, die Produkte zu riechen, sie anzufassen und mir vorzustellen, was ich meinen Kunden servieren könnte», sagt er. Um sich diese Freiheit zu bewahren, überarbeitet der Chefkoch seine Speisekarte einmal im Monat, wie zum Beispiel vor einigen Wochen, als er schöne Holunderbeeren entdeckte. Am nächsten Tag verfe nerten die kleinen Beeren ein Dessert, das er mit Gravensteiner Äpfeln und Verjus kreiert hatte.
SICH UNENTWEGT NEU ERFINDEN
«Hallo Pierrot! Geht’s gut?». Der Chefkoch im geblümten Hemd und mit der getönten Brille bleibt immer wieder stehen, um eine Hand zu schütteln, ein paar Worte mit einem Bekannten zu wechseln oder den Blick über die Auslage eines Gemüsebauern schweifen zu lassen. «Bei ihm bekommst du die besten Kirschen», flüstert er und deutet auf den Stand eines lokalen Produzenten. Das wöchentliche Tre!en mit denjenigen, die das Freiburgerland verkörpern, liegt ihm besonders am Herzen, und sein Team verlässt jeden Mittwoch im Morgengrauen mit schweren Säcken voller Obst, Gemüse und Käse den Markt. Er erinnert sich, dass er sich nach der Schliessung des früheren Le Pérolles im Herbst 2017 nahezu wie ein Waisenkind fühlte. «Es war seltsam, nur für mich auf den Markt zu gehen. Ich liebe es, mich inspirieren zu lassen, die Produkte zu riechen, sie anzufassen und mir vorzustellen, was ich meinen Kunden servieren könnte», sagt er. Um sich diese Freiheit zu bewahren, überarbeitet der Chefkoch seine Speisekarte einmal im Monat, wie zum Beispiel vor einigen Wochen, als er schöne Holunderbeeren entdeckte. Am nächsten Tag verfeinerten die kleinen Beeren ein Dessert, das er mit Gravensteiner Äpfeln und Verjus kreiert hatte.
DIE 23. AUSGABE DER GENUSSWOCHE
Eine Woche, die den Reichtum des Schweizer Terroirs feiert, aber auch auf die gesundheitlichen, nachhaltigen und politischen Herausforderungen, die mit unserer Ernährung einhergehen, hinweisen möchte: Die Schweizer Genusswoche ist mit über einer halben Million Teilnehmern jeden Herbst die grösste Gourmetveranstaltung des Landes und rückt seit 23 Jahren das Thema Ernährung in den Fokus. Freiburg, die Genussstadt 2023, nutzt dieses wunderbare Event, um seine Produzenten in den Vordergrund zu rücken, aber auch, um sich mit dem Thema der Herkunft, Aufwertung und Nachhaltigkeit lokaler Lebensmittel intensiv auseinanderzusetzen. Vom 14. bis 24. September steht in der gesamten Schweiz ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungen, Spezialmenüs und Aktivitäten auf dem Programm (unsere Auswahl finden Sie auf den Seiten 56–58).
EIN BERUF, DER ERINNERUNGEN WECKT
Die Sonne über dem Georges-Python-Platz steigt höher, die Gerüche vermischen sich, je weiter man von einem Stand zum anderen schlendert, Gelächter ertönt. «Das musst du unbedingt kosten, Pierrot!», ruft ihm ein Käser zu und hält ihm eine Scheibe eines der ersten Vacherin Fribourgeois d’Alpage der Saison hin. Er probiert ihn und nickt zustimmend, während er in die Ferne blickt. Durch den engen Kontakt zu seinen Produzenten kann dieser Perfektionist, der nichts dem Zufall überlässt, sicherstellen, dass er ausschliesslich Rohsto!e von höchster
«Es genügt eine Kleinigkeit, der Biss in eine Frucht oder auch nur ein Geruch, um etwas in deinem Gedächtnis zu wecken.»
Qualität erhält. «Es geht nicht nur darum, Gemüse zu bekommen und es zu kochen. Man muss es auch analysieren können, um zu verstehen, ob es sich eignet oder nicht.» Obwohl er nicht um jeden Preis nach Exotik strebt, lässt es sich Pierrot Ayer nicht nehmen, erstaunliche Zutaten in seine Kreationen einfliessen zu lassen, von Zitrusfrüchten bis hin zu unbekannten aromatischen Kräutern. Sein Kompass ist sein Geschmack. «Es genügt eine Kleinigkeit, der Biss in eine Frucht oder auch nur ein Geruch, um etwas in deinem Gedächtnis zu wecken.» Soll gute Küche Erinnerungen wachrufen? «Unser Beruf ist eng mit Erinnerungen verknüpft», betont er. «Das ist es, was das Kochen ausmacht. Wir arbeiten mit natürlichen Produkten und müssen sie hinnehmen, wie sie kommen. Jedes Jahr ist anders: Es ist wie mit den spezifischen Feinheiten eines Weins, die sich von Jahrgang zu Jahrgang unterscheiden. Estragon schmeckt in diesem Sommer anders als im Vorjahr, und auch Sauerteig unterliegt Schwankungen …» Die Küche, wie sie Pierrot Ayer beschreibt, ist eine Maschine, die den Geschmack der Zeit erfahrbar macht, und zugleich bescheiden und edel, luftig und bodenständig. Ein bisschen wie der Mann, dessen solider Körperbau und bestimmender Tonfall eine tiefe Bescheidenheit und eine i mense Neugier verbergen. Irgendwo in der Altstadt läutet eine Kirchenglocke. Der Koch wirft einen Blick auf seine Uhr. Es ist Zeit, sich wieder auf den Weg zum Restaurant zu machen, wo es vor dem Mittagstisch noch allerhand zu tun gibt. In wenigen Minuten wird er sein leichtes Hemd gegen eine weisse Kochjacke tauschen, seine Schürze mit einer behänden, tausendfach geübten Geste binden und sich in den Dienst seiner Gäste und seiner Produkte stellen. «Es spielt keine Rolle, ob von einem Sterne-Restaurant oder einem Dorflokal die Rede ist: Ein Restaurant ist ein Ort, der Geschmack vermittelt», fasst er abschliessend zusammen, während er die Tür des Le Pérolles aufstösst. «Und Geschmack ist Leben.»
Ob beim Gemüseoder Fischhändler, Pierrot Ayer wir! einen fachmännischen Blick auf die Produkte der Region, riecht, kostet und tauscht sich mit den Erzeugern aus. Der Koch, der den Freiburger Wochenmarkt seit jeher besucht, ist dort bekannt wie ein bunter Hund.
Clément Grandjean
WEITERE INFOS www.leperolles.ch