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DAS POTENZIAL DER SUFFIZIENZ


Was wäre, wenn dieses Konzept einen Grossteil der Energieprobleme lösen könnte, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert sein wird? Für den Verein négaWatt – eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Energiewende befasst – sowie für seinen Leiter David Moreau ist dies alles andere als Utopie.

«Suffizienz wird unseren Energieverbrauch drastisch senken.»

Der Verein négaWatt, zu dem Fachleute für Energie gehören, setzt auf dieses vernachlässigte Konzept und legt ein Szenario für die Schweiz für das Jahr 2050 vor. Die Ergebnisse sind spektakulär, sofern die Wirtschaft mitspielt, erklärt der Leiter des négaWatt-Büros David Moreau.

Suffizienz, Effizienz und erneuerbare Energien – das sind die drei Säulen des «négaWatt-Szenarios Schweiz». Die Arbeit prognostiziert den Energieverbrauch des Landes im Jahr 2050 und wurde in diesem Jahr vom Verein veröffentlicht. Sie bietet eine Alternative zu den «Energieperspektiven 2050+» der Eidgenossenschaft, die als Referenzszenario diente. Allerdings wird mit der Suffizienz ein zusätzlicher Faktor berücksichtigt. Suffizienz bedeutet einen Wandel im Verhalten auf sozialer, individueller und ökonomischer Ebene hin zu einer nachhaltigen Lebensweise. Diesen gilt es zu organisieren, um dem Klimawandel zu begegnen. Das Dokument sieht einen Verbrauch von knapp 351 Petajoule (PJ) im Jahr 2050 vor – gegenüber 524 PJ beim eidgenössischen Plan –, eine Verringerung um mehr als die Hälfte im Vergleich zu den 747 PJ, die 2020 verbraucht wurden. Es setzt auf eine «erneuerbare, nationale und solide» Energieversorgung. Die Verfügbarkeit der Technologien, mit denen sich das erzielen lässt, ist hoch, da die Kombination der drei Säulen eine positive Dynamik entwickeln soll. Die Herausforderungen zur Erreichung der Ziele sind laut dem Verein zunächst politischer und ökonomischer Natur. Utopisch? Realistisch? Wie ist dieser Bericht einzuschätzen? Ein Interview mit David Moreau, dem Leiter von négaWatt.

Die Eidgenossenschaft hat ihre Energieperspektiven für 2050 vorgelegt. Sind diese nicht zufriedenstellend?

Die eidgenössischen Szenarien sind präzise und dienten als Basis für unsere Modellierung. Aber es stimmt, dass die Hauptsäule unserer Studie – die Suffizienz – nicht einbezogen wurde. Diese kann aber durchaus zu einer erheblichen Verringerung des Energieverbrauchs führen. Sie macht die Effizienz neuer erneuerbarer Energien interessanter und zudem könnten wir dadurch auf Kernenergie, CO2-Sequestrierung oder Auslandskompensation verzichten. Wir möchten, dass das wenig beachtete Konzept der Suffizienz zum Gegenstand der Diskussion wird. Wir möchten sie auf Ebene der Kommunen und der Kantone in den Alltag einbinden und ihr einen höheren Stellenwert einräumen. Wir möchten diesbezüglich Massnahmen entwickeln und deren Vorteile aufzeigen.

Können Sie Beispiele nennen?

Die Beheizung der Wohnungen auf 20 °C statt 22 °C (der Schweizer Durchschnitt) und das Tragen von Pullovern in Innenräumen im Winter würde eine Einsparung von 5 PJ im Jahr 2050 ermöglichen. Die Verkürzung der Duschdauer um eine Minute (und die Senkung des Schnitts von sieben auf sechs Minuten) würde 2 PJ einsparen. Gebäudesanierungen, Einstellung des Baus allzu grosser Wohnungen – in den 1980er-Jahren verfügten wir im Schnitt über 35 m² pro Person, inzwischen sind wir bei 46 m² –, Austausch von Ölund Gasheizungen gegen Wärmepumpen. Im Jahr 2020 war der Bausektor mit 386 PJ der grösste Energieverbraucher. Um diese Energie zu erzeugen, müsste j der der 8,6 Millionen Einwohner der Schweiz an jedem Tag des Jahres eine 5070 km lange flache Strecke radeln. Durch das Vorantreiben der Suffizienzmassnahmen liessen sich im Jahr 2050 134 PJ einsparen. Das ist beachtlich.

Suffizienz ist nicht sehr reizvoll

Die Massnahmen sind gar nicht so einschränkend. Es ist keineswegs eine Rückkehr zum Kerzenschein. Im Gegenteil. Wir werben für eine Suffizienz, die auf die neuen Technologien setzt. Wer seinen Duschkopf mit einem Zähler ausstattet, führt sich seinen Wasserverbrauch vor Augen und wird die Duschdauer verkürzen. Die Behörden müssen die Menschen in hohem Mass für die Suffizienz sensibilisieren, denn aufgrund fehlender Kenntnisse macht sich Skepsis breit. Wir haben jedenfalls keine Wahl: Die Gesellschaft und die Wirtschaft müssen dieses Konzept einbinden, zumal die Technologien vorhanden sind.

Wie kann sich die Wirtschaft anpassen?

Die Geschäftsmodelle müssen sich an der Suffizienz orientieren. Die Wirtschaft des Mietens oder Teilens wird mehr Bedeutung gewinnen als die des Eigentums. Es gibt Spielraum, um Raclette-Grills, Bohrmaschinen und Autos besser zu nutzen, die wir alle zu Hause haben und die die meiste Zeit ungenutzt sind. Die Architekten können gemeinsam genutzte Gebäude entwickeln. Berufe wie die des Heizungsfachmanns werden sich neu erfinden müssen, insbesondere im Bereich der Wärmepumpen oder bei der Montage von Sonnenkollektoren, wo es an Arbeitskräften fehlt. Die Wirtschaft setzt auf kurze Wege und Kreislaufwirtschaft. Second- Hand-Plattformen haben grosses Potenzial. Die Holzindustrie wird gegenüber der umweltschädlicheren Zementindustrie an Bedeutung gewinnen. Stahl, der sich mit Holz weniger gut kombinieren lässt als mit Beton, wird im Bauwesen etwas weniger genutzt werden. Automobilmarken könnten schon ab Werk mit Car-Sharing-Systemen ausgestattet sein.

Geht es um Abschwung?

Nein. Es ist zwischen Energie und Ökonomie zu unterscheiden. Das négaWatt- Szenario zielt auf die Senkung unseres Energieverbrauchs ab, nicht auf die Verringerung des BIP. Die Wirtschaft kann als Gewinner aus dem Wandel hervorgehen, das haben zahlreiche Berichte gezeigt. In seinem Szenario geht négaWatt Frankreich davon aus, dass durch die Energiewende bis 2040 300’000 zusätzliche Stellen im Bereich der Gebäudesanierung und 135 000 im Bereich der erneuerbaren Energien geschaffen werden können. Es werden Arbeitsplätze wegfallen, aber andere werden entstehen. Eine geringere Umweltverschmutzung und die körperliche Aktivität durch das Zurücklegen von Strecken zu Fuss oder mit dem Velo generieren einen unglaublichen Gewinn für die Wirtschaft.

Heute geht ein Drittel des Energieverbrauchs auf den Transport zurück. Diese Zahl wird laut Ihren Prognosen durch die stärkere Nutzung von Velos, öffentlichen Verkehrsmitteln und Elektrofahrzeugen im Jahr 2050 auf 15 % sinken. Diese Prognosen gehen auch von weniger Kurzstreckenfahrten aus. Also mehr Homeoffice?

Wir prognostizieren mehr Arbeiten im Homeoffice, aber auch eine strukturelle Suffizienz. Diese beinhaltet, unsere Raumordnung zu überdenken, um näher am Arbeitsplatz zu wohnen, das Coworking auszubauen, die Tätigkeiten allgemein zu überdenken und Abteilungen zu dezentralisieren. Unser Szenario bindet eine starke Wiederansiedlung der Schweizer Industrie ein, was zu einer Steigerung des Energieverbrauchs der Schweiz führt, aber zu einer Verringerung auf internationaler Ebene, da die für den Frachtverkehr notwendige Energie eingespart wird.

Die Wiederansiedlung der Industrie ist ein zukunftsweisendes Thema, das sich allerdings nur mühsam konkretisiert.

Wir sind noch weit davon entfernt, aber durch die Coronakrise treten uns die Nachteile einer zu starken Abhängigkeit vom Ausland vor Augen. Jetzt wird uns das Problem bewusst. Die Rückkehr der Industrie wird kommen. «Lokal konsumieren» liegt im Trend, fördert die Entwicklung Schweizer Unternehmen und verringert die Nachfrage nach Importware.

Braucht es systematisch mehr Suffizienz? Wenn ich mir eine Photovoltaikanlage auf das Dach setze und eine Wärmepumpe einbaue, muss ich dann trotzdem kürzer duschen?

Im Winter auf jeden Fall, denn die Schweiz erzeugt nicht genug Strom und muss Strom importieren, was schwierig werden wird, da auch die Nachbarländer nicht genug Strom haben werden, insbesondere Deutschland, das aus der Kernenergie aussteigt. Während der kalten Jahreszeit sind die Photovoltaikanlagen weniger leistungsstark. Aber eine Wärmepumpe benötigt nun einmal Strom. Wir müssen sparsam sein. Vor allem in unserem Land, wo sich Windkraftanlagen schwer realisieren lassen. Im Winter erzeugen sie mehr Strom, da es dann windiger ist, wodurch sie die Photovoltaik ergänzen.

Bei der Warmwasserbereitung prognostizieren Sie eine starke Zunahme der Sonnenkollektoren (7 % der Heizsysteme 2020 gegenüber 44 % im Jahr 2050). Nun sind wir bei den Sonnenkollektoren aber weit von einer Steigerung entfernt und die Verkäufe sind sogar rückläufig …

Die Sonnenkollektoren ergänzen die Wärmepumpen, besonders im Sommer, wenn sie ohne Strom Warmwasser erzeugen können. Doch es gibt nur wenige Anreize für deren Insta lation, denn sie werden nicht gefördert. Der Gesetzgeber muss mehr Anreize schaffen. Das gilt übrigenses auch für die Photovoltaik. Bei Anlagen von Privatpersonen ist die Einspeisevergütung zu niedrig.

Laut Ihrem Szenario werden die Wärmepumpen bis 2050 effizienter werden (von 286 % auf 348 %). Was bedeutet das?

Es geht um die Ausbeute. Eine Wärmepumpe wird mit Strom betrieben. Sie lässt eine Flüssigkeit zwischen dem Erdboden, wo die Wärme aufgenommen wird, und den Wohnungen, wo die Wärme abgegeben wird, zirkulieren. Heute wird 1 kWh Strom benötigt, um die Flüssigkeit zirkulieren zu lassen und 2,86 kWh in Form von Wärme zu erhalten. Bei der Effizienzsteigerung stützen wir uns auf die gleichen Annahmen wie das eidgenössische Szenario.

Es werden Kernenergie-Techniken untersucht, bei denen nur geringe Abfallmengen anfallen. Warum lassen Sie diese aussen vor?

Wir berücksichtigen nur beherrschbare Energien. Es erscheint absurd, in die Kernenergie zu investieren, ohne sicher zu sein, eine Lösung für die Aufbereitung der Abfälle und die Unfallrisiken zu haben. Es handelt sich um kostspielige, sehr langfristige Investitionen, während unser Szenario zeigt, dass sich durch die Kombination von Suffizienz, Effizienz und erneuerbaren Energien die Frage nach der Kernenergie in der Schweiz nicht mehr stellt. Wir können ohne sie auskommen.

Halten Sie sich für einen Optimisten?

Wir haben keine Wahl. Die Energiewende und die mit ihr einhergehende Suffizienz sind machbar, aber sie verlangen, dass sich Behörden und Bevölkerung dies aktiv bewusstmachen. Mit einem guten politischen und ökonomischen Ansatz lassen sich enorme Energie-Einsparungen generieren und unsere Lebensweisen erhalten einen neuen Sinn.

Richard Étienne / Le temps

WEITERE INFOS: www.negawatt.org

Mit seinem Szenario schliesst négaWatt die Kernenergie-Frage in der Schweiz komplett aus. «Sie stellt sich nicht mehr, denn wir können ohne sie auskommen»,
sagt der Leiter.