HS Nachhaltige Entwicklung n°1 : Das Haus der Zukunft

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STÄDTEBAU: DER GRÜNE TREND


Ökoquartiere, grüne Infrastrukturen, öffentliche Pärke, Gärten: Die Natur erobert die Stadt zurück. Ihr Nutzen bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung und für die Verbesserung der Lebensqualität ist erwiesen. Viele aktuelle Beispiele zeigen, dass auch Gemeinden und Bauträger dies begriffen haben.

Begrünung statt Beton: Schweizer

Was wäre, wenn die Vegetation in unseren urbanen Zentren so viel Platz einnehmen würde wie die Betonflächen? Diese vor einigen Jahren noch zweitrangig behandelte Frage wird heute von Architekturschaffenden und Stadtplanenden beherzter angepackt. Überblick über eine Handvoll besonders ehrgeiziger Projekte, von Estavayer-le-Lac (FR) bis Zürich

Eine leichte Brise weht durch die Kiefern, die auf beiden Seiten der Allee emporragen. Hinter der Vegetation sprenkeln Gebäude das Gelände, ihre Silhouetten entfalten sich in natürlichen Farbtönen, von hellem Beige bis hin zu Braungrau. Zwischen den Gebäuden befinden sich von niedrigen Sträuchern gesäumte Wege, Rasenflächen und Gärten. Im Hintergrund ist das regelmässige Quietschen einer Schaukel zu hören. Wir befinden uns im Quartier Portes du Lac, nur einen Steinwurf von der mittelalterlichen Stadt Estavayer-le-Lac (FR) entfernt. Diese Wohnfläche, deren Bau 2016 begann und in acht Etappen erfolgen wird, soll langfristig rund 100’000 m2 umfassen und 640 Wohneinheiten, Gewerbeflächen und einen grossen bewaldeten Park umfassen. «Wir befinden uns in der dritten Phase», bemerkt Adrien Galland, Marketingkoordinator von Gefiswiss, dem auf Vermögensverwaltung und Immobilien spezialisierten Waadtländer Unternehmen, das hinter dem Projekt steht. «Mehr als 180 Wohnungen wurden bereits gebaut, und die Arbeiten gehen just in diesem Moment weiter.»

ORTE, AN DENEN ES SICH GUT LEBEN LÄSST

Die Besonderheit dieses brandneuen Quartiers? Anders als die umfangreiche Anzahl der Wohnungen vermuten lässt, bietet es viel Platz für Grünflächen, Bäume, gemeinschaftlich genutzte Gemüsegärten und Hecken: «87 % des Geländes bestehen aus Grünflächen», präzisiert Adrien Galland. «Unsere Philosophie ist es, nicht um jeden Preis zu verdichten, um einen Ort zu schaffen, an dem es sich gut leben lässt, und ihm gleichzeitig einen echten Mehrwert in Bezug auf Biodiversität zu verschaffen.» Mit seiner Vegetation, seinem Nahwärmenetz zur Rückgewinnung der Abwärme von Wohnräumen, seinem zentralen Platz, seinen Ladestationen für Elektrofahrzeuge, seinem zukünftigen Lebensmittelgeschäft und seinen mit Photovoltaikmodulen bedeckten Dächern ist der Standort ein perfektes Beispiel dafür, wie unsere Städte in naher Zukunft aussehen könnten: Räume, in denen der Beton dem Grün weicht.

GESELLSCHAFTLICHE UND KLIMATISCHE ASPEKTE

Was sich vor einigen Jahren noch auf vereinzelte Projekte beschränkte, hat sich zu einer regelrechten Welle entwickelt. In allen Teilen des Landes, in Grossstädten wie in ländlichen Gebieten, während Renovierungskampagnen oder dem Bau neuer Wohngebiete, erobert die Flora ihren Platz zurück. Und das überrascht die Spezialisten auf diesem Gebiet nicht. «Dieser Trende reagiert auf zwei grosse Herausforderungen, vor denen unsere Städte stehen», bemerkt Patrick Rérat, Professor am Institut für Geographie und Nachhaltigkeit der Universität Lausanne. «Da wäre zum einen die dringende Anpassung an den Klimawandel, die Planung schattiger Areale, um Wärmeinseln zu vermeiden, oder die Förderung des Wasserabflusses bei Extremwetterereignissen. Die Schaffung blau-grüner Infrastrukturen, wie wir die Vegetationsund Wasserachsen bezeichnen, ist entschedend, um die Wirkung von Beton- oder Asphaltflächen auszugleichen. Zum anderen kommt ein gesellschaftlicher Aspekt hinzu: Die Bewohnerschaft beansprucht eine gewisse Lebensqualität, und der Tausch von Bitumen gegen Grünfläche gehört dazu.» Grünanlagen, Licht, Platz: So könnte man den neuen städtebaulichen Ansatz zusammenfassen, der von Genf bis Zürich zu beobachten ist. «Dieses Bewusstsein für die Bedeutung der Wiederbepflanzung ist nicht wirklich neu», relativiert Patrick Rérat. «Bereits Ende der 1990er Jahre entwickelten einige Städte Strategien zur Förderung der Biodiversität. Aber diese Frage ist erst in jüngster Zeit zu einem zentralen Bestandteil der Stadtplanungspraxis geworden.» Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht die Asphaltfrage: Soll ein Schulhof oder ein Parkplatz wirklich asphaltiert werden? Könnte das Strassennetz, also alle Verkehrsachsen einer Agglomeration, nicht teilweise bewaldet sein oder Gärten beherbergen? Neue Fragen, neue Antworten. Dies gilt umso mehr, wenn man sich dafür entscheidet, die ansässige Bevölkerung in die Diskussion miteinzubeziehen, deren Erwartungen die Pläne der Fachleute bisweilen durchkreuzen.

DER FINANZIELLE ANREIZ

Es gibt einerseits die grundlegende halb urbanistische, halb philosophische Überlegung über das Gesicht, das wir unseren Städten geben möchten, andererseits die Umsetzung, welche mit noch nie dagewesenen technischen und finanziellen Herausforderungen einhergeht. Um dies zu fördern, setzen einige Kantone alle gesetzlichen Hebel in Bewegung wie etwa der Kanton Basel-Stadt, der mit der obligatorischen Begrünung aller Flachdächer bei Sanierungen oder Neubauten bereits 2001 eine Vorreiterrolle spielt. Andernorts erfolgt die Umstellung vor allem auf Betreiben von Bauträgern. Man muss sich jedoch eines klar vor Augen führen: Wenn Ökoquartiere wie Pilze aus dem Boden schiessen, liegt das daran, dass Investoren hier auf ihre Kosten kommen: «Bauträger haben ein offenes Ohr für die Forderungen der Bevölkerung », sagt Patrick Rérat. «Für sie steht enorm viel auf dem Spiel.» Die Käufer sind da, die Mieter auch: Die Formel geht auf. Davon zeugt der Erfolg von Gefiswiss, das sich in der Westschweiz als zentraler Akteur für nachhaltige Immobilien etabliert hat. «Die Verbindung von Ökologie und Ökonomie ist seit der Gründung im Jahr 2008 Teil der Unternehmens-DNA», erklärt Adrien Galland. «Wir haben einige der ersten Gebäude mit dem Energiestandard Minergie-P im Kanton Waadt gebaut. Unser Erfolg zeigt, dass der Markt für diese Entwicklung bereit ist.»

EIN BERUF, DER SICH WEITERENTWICKELTE

Klima, Energieeffizienz, soziale Belange … Hinter dieser zunehmenden Ökologisierung erfinden sich eine ganze Reihe von Berufen neu, allen voran die Stadtplaner und planerinnen, die nunmehr eine tonangebende Rolle spielen. Um sie herum tragen Fachkundige in den Bereichen Architektur, Landschaftsgestaltung (siehe Seite 24), Geographie, Ingenieurwesen sowie Hydrographie und Mobilität ihren Teil zu diesem Gemeinschaftswerk bei. Und die Ausbildungen passen sich dieser neuen Berufsdefinition an: «Noch vor dreissig oder vierzig Jahren haben wir gelernt, dass eine Stadt etwas Mineralisches ist», sagt Patrick Rérat. «Heute ist dieser Parameter zu einem Schlüsselelement für junge Stadtplanende geworden.» Eine neue Generation, die einen anderen Blick auf unsere Städte richtet und die über akademische Fähigkeiten verfügt, wodurch sie sowohl die Gestaltung von Beton als auch von Begrünungen beherrscht. Eine Generation, die darüber hinaus verstanden hat, dass Verdichten nicht zwangsläufig bedeutet, so viele Wohneinheiten wie möglich auf engstem Raum zu komprimieren. «Baustellen einer gewissen Grössenordnung wie etwa das Ökoquartier Plaines-du-Loup in Lausanne – das nahezu 30 Hektar umfassen wird – können nicht auf einer einfachen Anhäufung von Gebäuden basieren. Wir denken zunächst über Freiräume, Kommunikationsachsen, Energieanlagen nach, erst dann zeichnen wir die Wohnstätten.» Zuerst Freiräume erdenken. Das ist genau die Herangehensweise, für die sich Gefiswiss in Estavayer entschieden hat: «Aussenanlagen bleiben allzu oft auf der Strecke», stellt Adrien Galland fest. «Wir können nicht immer im Hinblick auf unmittelbare Rentabilität denken: Alleen, Gärten, Grünflächen bringen sicherlich nicht so viel ein wie Wohnflächen, aber sie haben einen indirekten Wert.» Es ist in der Tat schwierig, den Wert eines unverstellten Blicks auf die Alpen, den See oder den benachbarten Hügel, die Helligkeit, die eine Hauptgeschäftsstrasse abstrahlt, oder die Art und Weise, wie der Wind zwischen den Gebäuden zirkuliert, einzuschätzen. «Dabei sind es ebendiese Faktoren, von denen die Qualität des öffentlichen Raums abhängt», sagt Vincent Kempf, Leiter der Abteilung für Stadtplanung und Mobilität der Stadt Sitten. «Es sind die Sonneneinstrahlung, das Panorama oder die verfügbaren Dienstleistungen, die es den Einwohnern ermöglichen, sich ein Quartier anzueignen. Und wertvolle urbane Strukturen zu schaffen, ist ein Beruf für sich.» Von der Hecke aus beobachtet uns eine Amsel, die auf dem Ast einer Eberesche sitzt. Vögel, Säugetiere und Insekten lassen sich bereits in den Hainen und Wiesen der Portes du Lac nieder. Weiter hinten, über den Dächern, sehen wir den Kränen bei der Arbeit zu. Die Stadt der Zukunft wartet nicht.

 

Clément Grandjean

DIE 15-MINUTEN-STADT

Die Zunahme von Ökoquartieren in der Schweiz verdeutlicht ein tiefgreifendes Umdenken: Man denkt immer weniger an das Bauliche, um einen Sektor oder eine Stadt aus ihrer ganzheitlichen Perspektive zu betrachten. Dieser Ansatz ist besonders interessant, weil er es ermöglicht, viele Elemente zu rationalisieren, von Grünflächen über Wärmeerzeugung bis hin zu Mobilität. Diese Vision deckt sich mit dem Konzept der «15-Minuten-Stadt», welches besagt, dass in einer idealen Stadt jeder Bewohnende in weniger als 15 Minuten zu Fuss oder mit dem Rad Zugang zu allen wichtigen Einrichtungen haben sollte. Von Paris bis Shanghai avanciert diese Idee heute zum zentralen Thema im Städtebau.